Frieden ist ein Luxusgut

Ein Kommentar zum positiven Frieden und dem Zustand unserer Gesellschaft

Johan Galtung schrieb in den 1970er Jahren, vor seinen zahlweisen Kontroversen, die ihn nach modernem Verständnis auf die #canceled Liste setzt, der Schreiber und Denker verweist. Seine ursprüngliche Idee von einem Frieden auf jeglicher gesellschaftlicher Ebene, sei es zwischen Ländern, religiösen Gruppen oder nur am Nachbarzaun. Strukturelle Gewalt, jegliche Ismen und Ungerechtigkeit gehören in diesem Idealbild der Vergangenheit an. Klingt utopisch? Ist es auch, denn die Lebensrealität der meisten Menschen auf unserem sterbenden Planeten ist Lichtjahre von dieser Utopie entfernt.

von Latifah Cengel

Nach bald drei Jahren Pandemie, während einer der schlimmsten Inflationen seit Jahrzehnten und nach etwa 500 Jahren White Supremacy, ist es verständlich, dass die meisten von uns nicht mehr daran glauben, eine Ära des positiven Friedens miterleben zu dürfen. Alleine die 40 Stunden-Arbeitswoche lässt daran stark zweifeln.

Wenn wir jedoch einmal kurz alle Logik aus dem Fenster werfen und der Utopie ins Auge sehen wollen: Was müsste sich ändern, um wenigstens annähernd an den Idealzustand nach Galtung heranzukommen?

Foto: Mikolaj Niemczewski/canva

Einigkeit und Recht? Und Freiheit??

Deutschland, die Nation der Dichter und Denker- Und der Ungerechtigkeit.

Wie kann es sein, dass 2023, in einem Land, das angeblich seit 1948 entnazifiziert ist, immernoch Racial Profiling auf allen Ebenen stattfindet.

Auf dem Wohnungsmarkt ist es mit einem ausländischen Nachnamen fast unmöglich, bezahlbaren oder selbst überteuerten Wohnraum zu bekommen.

Foto: https://bit.ly/3HQd8E0

Eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2020 bestätigte, dass die Wohnungssuche für rassifizierte Menschen den Nr.1 Spot auf der langen Liste der “Orte an denen ich diskriminiert werde” belegt. 

Diese Zahlen decken sich ziemlich eindeutig mit persönlichen Erfahrungen und verzweifelten Erzählungen von Freund:*innen und Familie, die teilweise Jahre in verschimmelten oder zu kleinen Wohnungen ausharren mussten.

Ähnlich geht es auf dem Arbeitsmarkt zu, gerade für diejenigen, die auf dem Papier vielleicht Jonas Müller heißen, aber eben Schwarz sind. Keine Rückrufe trotz tollem Erstgespräch, sobald die Religion zur Sprache kommt. Und für Hijabis ist in Deutschland sowieso kein Platz, trotz Fachkräftemangel.

Einigkeit, naja. Recht, aber für wen? Freiheit? Vielleicht mit dem passenden Portemonnaie und der richtigen Hautfarbe.

Alles für den Lebenslauf

Ein stinknormaler Abijahrgang, eine typische Abiturientin, nennen wir sie: Anna.

Anna möchte soziale Arbeit machen, oder Lehramt, irgendwas mit viel Ferien, denn Zeit für das Reisen muss sein. 

Anna ist mit ihrem 2,4 Schnitt allerdings nicht ganz zufrieden, irgendwas muss her, um den Lebenslauf ein wenig aufzupeppen. Anna weiß auch schon was: Einen kleinen Abstecher in den globalen Süden: Afrika, Asien, Südamerika- Hauptsache das Land ist arm und die Kinder dunkel. Damit die Fotos sich auch später gut im Tinder-Profil machen.

Anna betreibt White Saviorism, sie denkt, dass ihre knapp 12 Jahre Schulausbildung in Europa und ihr westliches Antlitz sie qualifiziert genug machen, für 4 Wochen in einer Schule, einem Waisenhaus oder in einem Kindergarten als vollwertiges Teammitglied zu arbeiten. Vielleicht kann sie den armen, ungebildeten Mitarbeiter:*innen vor Ort sogar etwas beibringen. Denn schließlich sind sie so viel schlechter dran als sie.

Also zahlt Anna etwa 2.500 Euro an eine Reisegesellschaft, die Voluntourismus anbietet, überteuerte Reisen, die als sogenannte „Volunteerings“- oder früher auch „Entwicklungshilfe“ bezeichnet werden. Das einzige was sich hier entwickelt ist das Ego der Europäer:*innen, die sich wie ihre mordenden Vorfahren auf den Weg machen, um den Wilden auf der anderen Welthalbkugel mal zu zeigen, wie man sich benimmt. 

Wer Menschen, die durch Kolonialismus benachteiligt werden, helfen will und keine eigene Agenda verfolgt wird natürlich fast 3000 Euro in ein weiß geleitetes, Neokoloniale, multimillionen Euro Business stecken anstatt an von Betroffenen geleitete Organisationen zu spenden. Ergibt Sinn, danke Anna!

Klimarettung oder Schuldtilgung

Hambacher Forst, Lützerath, Fechenheimer Wald- Besatzungen durch linke Gruppen und Umweltschützer:*innen die zurecht um die Erhaltung der letzten Grünflächen in Deutschland. Gruppen wie Extinction Rebellion und Fridays For Future sind seit mehreren Jahren auf deutschen Straßen unterwegs, um uns daran zu erinnern, dass uns die Klimakrise bald alle treffen wird. Alle, das große Ende macht keinen Halt vor Religionen oder Hautfarben, oder?

Zunächst natürlich schon, denn wer sind die Menschen, die bereits heute von der Klimakrise direkt betroffen sind: Indigene im Pazifik und im Indischen Ozean, deren Carbon Footprint wahrscheinlich kleiner ist, als der eines deutschen Kindergartenkindes. Der afrikanische Kontinent, auf dem es an Stellen seit Jahren nicht mehr geregnet hat und das wenig übrig gebliebene Wasser vom französischen Giganten Nestle aufgekauft wird. 

Wir wissen inzwischen: Der Klimawandel ist menschengemacht, aber von wem? Sicher nicht von einem Fischer an der senegalesischen Küste oder einer Köchin auf Tonga. Große Firmen Komplexe, die jetzt mit überteuerten Greenwashing Produkten Geld aus unserer Schuld und ihren eigenen Verbrechen machen. Und deutsche, oberklasse Kids, die in Vorstadtkleinvillen mit Reitunterricht und Querflöte aufwachsen verurteilen ihre armen Mitschüler:*innen, die sich nur Fast Fashion und Eier aus Bodenhaltung leisten können. 

Der Westen zerstört die Welt und beschämt diejenigen, die nicht mit dem vorgegaukelten Klimabewusstsein mithalten können.

Am Ende des Tages ist unsere Hautfarbe, unsere Religion und wo wir geboren  werden nie egal: Es holt uns ein, auf die eine oder andere Weise.  

Hauptsache nicht zuhause

Der schier ewig andauernde Kampf zwischen Ost- und Westmächten wird bereits seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr auf eigenem Boden ausgetragen. 

Von Wettrüsten, Ausflügen ins All und Kampf ums Öl. Der eigenen Bevölkerung bleibt Angst vor Bomben und Raketen erspart. Das müssen sie sich nicht antun, dafür gibt es doch Kinder im Mittleren Osten. 

Afghanistan, Syrien und Jemen dienen seit Jahren als Spielwiese der großen, reichen Industrienationen. Generationen von Kindern auf der Flucht, die der Manipulation von Terrorgruppen, mangelnder Bildung und dem Rassismus der Ankunftsländer ausgesetzt sind. Junge Männer, die die Flucht ohne Familie antreten, da es für Frauen kaum eine Überlebenschance gibt und immer mehr Kinder im Mittelmeer ertrinken. In Europa werden sie dann kriminalisiert und zum Sündenbock. Arbeitserlaubnis kaum zu bekommen und das Studium aus der Heimat wird auch nicht anerkannt. 

Unschuldige werden Opfer der Machthungrigkeit der Obrigkeit, der Kreislauf geht weiter. 

Galtungs Theorie ist und bleibt eine utopische Vorstellung, denn wir sind noch weit von einem Zustand positiven, eines langfristigen Friedens entfernt. Die internationalen Baustellen der Ungerechtigkeit sind so zahlreich, man weiß  gar nicht, wo man anfangen soll. 

Und letztendlich ist die Klimakrise wie eine riesige Regenwolke, der wir nicht ausweichen können. Regenwolke vielleicht in Ansicht der vielen Dürren ein schlechter Vergleich, aber ich glaube die Botschaft ist eindeutig. Kapitalismus und Imperialismus haben uns der Zeit beraubt, die wir für das Erreichen eines positiven Frieden gebraucht hätten. Frieden ist ein Luxusgut geworden, das sich kaum noch einer leisten kann.

Survival of the fittest, das heißt inzwischen of the richest, hat es geschafft ein weiteres menschliches Grundbedürfnis in ein schier unerreichbares und unvorstellbares Konstrukt verwandelt, das lediglich am ende eines Disneyfilmes zur Realität werden kann.

(Quelle Titelbild: Patrick Fore/ unsplash)

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