Bhutan – ein Land zwischen Glück und Fortschritt

Ein kleines Land in Ostasien, das nach eigenen Angaben das glücklichste Land der Welt ist. In dem die Verfassung vorschreibt, die Bürger:innen durch soziale Gerechtigkeit und Klimaneutralität glücklich zu machen. 

von Juno Latscha

Foto: Mike Swigunski/ unsplash

Mitten im Himalaya-Gebirge, zwischen Bangladesh und China, mit gerade einmal 700.000 Einwohner:innen liegt das glücklichste Land der Welt. Während die meisten Länder auf Fortschritt setzen und versuchen, die Wirtschaft immer größer, besser und schneller werden zu lassen, verfolgt das Königreich Bhutan einen anderen Weg. In dem kleinen Land in Ostasien steht das Glück seiner Bewohner:innen an oberster Stelle – es ist sogar in der Verfassung verankert. Dort steht beispielsweise geschrieben: „Wenn die Regierung nicht in der Lage ist, das Volk glücklich zu machen, dann hat die Regierung keine Existenzberechtigung.“

Als 1974 der dritte König Bhutans unerwartet starb, musste sein gerade einmal 16-jähriger Sohn Jigme Singye Wangchuck den Thron besteigen. Der junge König wusste nicht, was das Volk von ihm erwartet und beschloss, durch das Land zu reisen und nach einer Antwort zu suchen. Obwohl die meisten Bewohner:innen unterschiedliche Antworten gaben, gingen sie am Ende alle in dieselbe Richtung: Glück und Wohlergehen. Singye Wangchuck beschloss, dies zum wichtigsten Gut seiner Politik zu machen. Über die Jahre entwickelte sich das Konzept des sogenannten Bruttonationalglücks. “Es ist die Essenz, mit der wir unser wichtigstes Ziel, nämlich Frieden und Glück für unser Volk, sichern können. […] Wenn wir diese Möglichkeiten wahrnehmen, erfahren wir auch Freude und sichern so den Frieden und die Souveränität für unser Land”, sagt der amtierende König Jigme Khesar Namgyel Wangchuck. 

Foto: Gaurav Bagdi/ unsplash

Die vier Säulen des Glücks

Das Konzept des Bruttonationalglücks besteht aus vier Säulen. An oberster Stelle steht die Förderung einer sozial-gerechten Wirtschaftsentwicklung. “Die Wirtschaft muss im Dienste des Menschen und seines Glücks stehen, nicht umgekehrt”, sagt Dr. Ha Vinh Tho, der viele Jahre das “Gross National Happiness”-Center in Bhutan leitete. Aus diesem Grund hat Bhutan beispielsweise eine Menge profitversprechender Wirtschaftsprojekte abgelehnt. “Die Wirtschaft muss im Dienst des Menschen und seines Glücks stehen, nicht umgekehrt”, sagt Ha Vinh Tho. Das Bruttoinlandsprodukt, das bei uns in Deutschland ja fast schon heilig ist, untersteht in Bhutan dem Bruttonationalglück. Glück vor Geld. Auch der Tourismus wird in dem Land klein gehalten. Nur mit einer Genehmigung und einem persönlichen Reiseführer darf man als Tourist:in das kleine Land in den Bergen des Himalayas besuchen und das auch erst seit 1977.

Dadurch soll die zweite Säule des Nationalglücks aufrechterhalten werden: die Bewahrung und Förderung der bhutanischen Kultur und Religion. Bhutan ist einer der letzten Orte, an denen der Mahayana-Buddhismus praktiziert und als Staatsreligion anerkannt wird. Dabei geht es vor allem darum, Mitgefühl für das Leid anderer zu entwickeln und Leidende zu erlösen. Die Gesellschaftsordnung und die historischen Strukturen aus den vergangenen Jahrhunderten werden in Bhutan bis heute praktiziert. Besonders an traditionellen Festen und den sogenannten Driglam Namzha, den Verhaltensregeln des Landes, halten die Bhutaner:innen fest. 

Bhutan besteht größtenteils aus Wald, auch das ist in der Verfassung festgeschrieben. Zwei Drittel des Landes, das ungefähr der Größe von Nordrhein-Westfalen entspricht, sind mit Wald bedeckt. Nur an wenigen Stellen gibt es kleine Städte, die durch enge Serpentinenstraßen verbunden sind. Wirtschaft gibt es kaum. Das Besondere: Bhutan ist eines der einzigen Länder der Welt, das nicht nur klimaneutral ist, sondern mehr Treibhausgase absorbiert, als es produziert. „Echtes Glück entsteht, wenn ein Mensch in Harmonie mit sich selbst, der Gesellschaft und der Natur lebt“, sagt Ha Vinh Tho.

Doch all das ist nur möglich, wenn die Regierung im Einklang mit den Werten und Wünschen der Bevölkerung handelt. Bhutan ist eine konstitutionelle Monarchie, das bedeutet, dass der König von Bhutan zwar Regierungschef:innen und Minister:innen ernennen und absetzen kann, aber das Land hauptsächlich bei offiziellen Anlässen repräsentiert. Erst seit 2007 dürfen die Bhutaner:innen wählen gehen, ein Jahr später wurde dann eine Verfassung eingeführt. Das Land orientiert sich dabei stark an England und dem Zwei-Kammern-System. Die Förderung einer sozial-gerechten Wirtschaftsentwicklung, die Bewahrung und Förderung von Kultur und Religion sowie der Schutz der Umwelt durch eine gute Regierungsführung soll Bhutan das Glück bringen, das sie sich wünschten. 

Bhutaner:innen werden immer unglücklicher 

Um herauszufinden, ob die Bemühungen der Regierung wirklich funktionieren und die Bhutaner:innen glücklich sind, erhebt Bhutan in regelmäßigen Abständen Umfragen. Gemessen wird das Glück der Bewohner:innen beispielsweise an dem seelischen Wohlbefinden, der Gesundheit sowie an der Bildung oder dem Lebensstandard des Befragten. Während die Mehrheit der Bevölkerung seit Einführung des Bruttonationalglücks weitgehend zufrieden war, werden die Bhutaner:innen von Jahr zu Jahr unglücklicher. 2019 gaben knapp neun Prozent an, unglücklich zu sein –  ein Prozent mehr als die Menschen, die angaben, „zutiefst glücklich” zu sein. Die Zahlen seien alarmierend, warnt Dr. Chencho Dorji, einer der wenigen Psychiater in Bhutan. Den Grund für die steigende Unzufriedenheit der Bhutaner:innen sieht er vor allem in der enorm schnellen Entwicklung, die das Land momentan durchmacht. „Man muss bedenken, dass wir in den letzten 20 Jahren von einer landwirtschaftlich geprägten, mittelalterlichen Gesellschaft hinein in die Welt des 21. Jahrhunderts gekommen sind.“

Bhutan lag den Großteil seiner Existenz abgeschottet und fernab von jeglichem wirtschaftlichen Fortschritt. Erst 1999 wurde in Bhutan das Fernsehen eingeführt, 2003 gab es das erste Handy. Doch gerade den jungen Menschen geht die technische Entwicklung zu langsam. Immer mehr verlassen das Land. „Viele Leute leben hier noch so rückständig. Es ist wirklich schwer, hier zu überleben”, sagt Namgay. Sie ist vor ein paar Wochen nach Australien gezogen, um dort als Krankenschwester zu arbeiten. Zu wenig habe sie in Bhutan verdient. “Ohne Geld geht es nicht im Leben und auch unsere Jugend hat verstanden, wie wichtig Geld ist”, sagt sie. Zum Glück gehöre eben auch ein gutes Gehalt und eine sichere Lebensgrundlage. Bhutan spürt immer mehr den Druck der wirtschaftlich und digital vernetzten Welt – besonders mit Indien und China als Nachbarländern. „Unsere Wirtschaft, so nachhaltig und gerecht sie auch ist, hat nicht mit dem sozialen Fortschritt Schritt gehalten. Wir können derzeit nicht ausreichend Jobs zur Verfügung stellen. Wir haben Arbeitsplätze in der Landwirtschaft oder auf dem Bau, aber unsere Jugend ist für bessere Jobs ausgebildet worden. Und so lange wir keine entsprechenden Stellen anbieten können, schauen sie natürlich außerhalb des Landes nach Jobs”, sagt Tshering Tobgay, ehemaliger Ministerpräsident des Landes. Und auch wenn das Glück in Bhutan weiterhin an vorderster Stelle stehen soll, so kann es auch die Augen nicht mehr vom Rest der Welt verschließen. „Wir brauchen Investitionen, aber solche, die nicht gegen unser Bruttonationalglück verstoßen”, erklärt Tobgay.

Trotz Fortschritt und Digitalisierung soll in Bhutan weiterhin gelten: Glück über Geld. Es bleibt zu hoffen, dass das kleine Land im Himalaya-Gebirg den Sprung in eine vernetzte Welt schafft, ohne seine Traditionen und vor allem sein Glück zu verlieren. 

(Quelle Titelbild: Nihar Modi/ unsplash)

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